geschrieben von Thomas Mollen
28 Menschen nehmen sich täglich in Deutschland das Leben, über 500 versuchen es. Damit ist die Anzahl der Suizid-Toten höher als jene der Verkehrstoten. Über diese erschreckenden Zahlen und die Schicksale dahinter wird in den Medien nur selten und dann äußerst zurückhaltend berichtet. Man fürchtet Nachahmer durch den „Werther-Effekt“.
Dass es unter Umständen jedoch auch einen positiven Effekt durch die Berichterstattung geben kann, darüber hat in einem Workshop des Diözesancaritasverbands und der GKP-Regionalgruppe Münster der österreichische Journalist Golli Marboe erzählt. Er selbst hat vor einigen Jahren seinen damals 29-jährigen Sohn durch Suizid verloren. Der „Papageno-Effekt“, erforscht an der Medizinischen Universität Wien, besagt, dass durch offenen, aber angemessenen Umgang mit den Themen Angst, Depression und Suizid ein Beitrag zur Prävention geleistet wird.
„Nach dem Tod meines Sohnes Tobias fragten wir Hinterbliebenen uns: Was haben wir übersehen, was hätten wir besser machen können?“ berichtete Marboe. „Wir wussten wenig über Fragen des psychischen Wohlbefindens.“ Seit damals habe er das Gefühl, „einer Geheimloge anzugehören“: Immer wieder werde er von Menschen angesprochen, die ähnliches erlebt hätten oder sich selbst in einer psychischen Krise befänden. Aber diese Leute bäten ihn dann, nichts davon weiterzuerzählen. „Man nützt die wenige Kraft, die man noch hat, dafür, Dinge zu verheimlichen, statt das Problem anzugehen.“ Dabei sei das Reden über Verlust, Suizidalität und eigene Krisen die wichtigste Präventionsmaßnahme überhaupt. „Wir müssen davon berichten, dass man Krisen überwinden kann und dass jeder vermisst wird, der geht.“
Zwar gehe die Selbsttötungsrate seit den 70er Jahren zurück, aber man könne noch viel mehr machen. Drei Viertel aller Suizidtoten seien männlich, führte das GKP-Mitglied aus Wien aus, 99 Prozent hätten vorher an einer psychischen Erkrankung gelitten. Es müsse klar sein: „Menschen, die sich das Leben nehmen, wollen nicht tot sein. Aber sie wollen so nicht weiterleben.“
Was es benötige, seien professionelle Beratungs- und Hilfsangebote für psychisch kranke Menschen. „Keiner von uns würde einen Blinddarm operieren. Wieso gehen wir dann davon aus, eine Depression mit einem Spaziergang oder guter Musik heilen zu können? Dafür braucht es Profis!“, machte Marboe deutlich. Er plädierte zugleich für viel mehr Achtsamkeit und Selbstreflexion im Alltag: „Müssten wir nicht eigentlich an einer Gesellschaft arbeiten, in der die Menschen weniger krank werden, anstatt sie hinterher zu ‚reparieren‘?“
Nach dem persönlichen Erfahrungsbericht als Hinterbliebener gab Golli Marboe den rund 15 Teilnehmenden des Workshops in Münster konkrete Tipps, wie man angemessen und respektvoll über Suizide berichten kann: „Als Medien sind wir Kuratierende. Wir sind nicht dazu da, irgendetwas laut zu brüllen, um Klicks zu generieren. Bei allem sollten wir zum Maß nehmen, ob wir das auch der Mutter des verstorbenen so präsentieren könnten.“ Drei Aspekte stellte er als besonders wichtig heraus: 1.) Keine Infos zur Tötungsmethode. 2.) Keine Fotos vom Leichnam. 3.) Keine Zitate aus dem Abschiedsbrief. Denn die Würde eines verstorbenen Menschen dürfe durch die Berichterstattung nicht verletzt werden, und dazu gehöre auch, diese Person nicht auf die Umstände ihres Todes zu reduzieren. Wichtig sei es auch, bei einer Berichterstattung über Suizide immer konkrete Hilfsangebote für Betroffene zu benennen. Denn „wer sich in einer Krise befindet, hat keine Zeit für Recherche.“
Ein absolutes No-Go sei die Bezeichnung „Selbstmord“. Hier wurde Marboe noch einmal persönlich: „Mein Sohn war kein Mörder!“ Es ginge nicht an, ihn mit dem schwersten Verbrechen in Verbindung zu bringen, zu denen ein Mensch fähig sei. Auch der Begriff „Freitod“ sei problematisch, denn er habe nichts mit der Situation zu tun, in der Betroffene sich befänden: „Es ist nicht der freie Wille, der die Menschen zu dieser Tat treibt, sondern es ist die Krankheit.“
Auch Berichterstattende sollten im Übrigen gut auf sich und aufeinander achtgeben. Viel zu oft gebe es eine Scheu, jemanden anzusprechen, der möglicherweise psychische Probleme mit sich herumtrage. „Du, ich mache mir Sorgen um dich. Geht es dir gut? Wie kann ich dir helfen?“ – Diese Frage sei immer erleichternd und öffne den Horizont.