Interview

Mit Cate Blanchett am roten Teppich

| 9 min Lesezeit

Mit Cate Blanchett am roten Teppich

geschrieben von Joachim Frank

GKP-Mitglied Kerstin Heinemann, Medienpädagogin beim Münchner „JFF – Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis“, arbeitet auch in der Katholischen Filmkommission für Deutschland mit. Nach zahlreichen Besuchen der Berlinale als Fachbeobachterin war sie 2023 erstmals als Mitglied der Ökumenischen Jury dabei.

Frau Heinemann, bei den Siegern der diesjährigen Berlinale gibt es keine einzige Überschneidung zum Preis der Ökumenischen Jury. Was ist der interna­tionalen Jury entgangen?
Heinemann: Auch wir haben den Gewinnerfilm des Goldenen Bären „Sur l’Adamant“ über eine Tagesklinik für psychisch Kranke auf der Seine in Paris mit einer lobenden Erwähnung bedacht. Der Film war die einzige Dokumentation im gesamten Wettbewerb. Er funktioniert sehr gut, ist sensationell gemacht. Wir hätten ihn uns nur knapper, konzentrierter vorstellen können. Nach einer Stunde wiederholt sich dann doch vieles.

Sie dagegen haben den mexikanischen Film „Tótem“ auf Platz eins gesetzt.
Grundsätzlich sollte ich vielleicht erklären, dass die Jurys sehr unterschiedlich vorgehen. Als Ökumenische Jury sichten wir den Hauptwettbewerb komplett, von den Kategorien „Panorama“ und „Forum“ jeweils eine Auswahl. Die Jurys sehen also nicht alle dieselben Filme. An unserem Gewinner „Totem“ hat uns besonders fasziniert, dass der Film über den Geburtstag des sterbenskranken Protagonisten wie ein Wimmelbild konstruiert ist. Er zeigt auf sehr anrührende Weise, wie man das Leben feiert im Angesicht des Todes. Wichtig war uns bei den Prämierungen auch der politische Fokus. Der Film „Where God is not“ des iranischen Filmemachers und Architekten Mehran Temadan bringt das Grauen von politischer Gefangenschaft und Folter auf eine sehr eigene Weise ins Bild. Die Welt steht in Flammen, und der Film reagiert darauf. Filme sind politisch, die Berlinale ist politisch – 2023 ganz besonders.

Die internationale Jury hat die neun Jahre alte Sofía Otero als beste Schauspielerin mit einem Silbernen Bären ausgezeichnet. Hatten Sie als Jury ihren Film „20 000 espescies de abejas“ über ein Mädchen, das seine geschlechtliche Identität sucht, auch auf dem Schirm?
Das war so ein Fall, wo ich tatsächlich in der Weltpremiere saß. Und ich war schockverliebt in das unglaublich facettenreiche Spiel dieses Kinds. Es gibt Kritikerinnen und Kritiker, die die Auszeichnung kritisch sehen, weil sie sagen: Nicht intuitives, sondern reflektiertes Spiel ist es, was die Kunst ausmacht. Ich sehe es anders. Es ist eine irre Leistung, in diesem Alter ein solches Gefühl zu entwickeln, worauf es am Set ankommt.

„Die Jury ehrt Filmschaffende, die in ihren Filmen ein menschliches Verhalten oder Zeugnis zum Ausdruck bringen, das mit dem Evangelium in Einklang steht, oder die es in ihren Filmen schaffen, das Publikum für spirituelle, menschliche und soziale Werte zu sensibilisieren“, heißt es auf der Berlinale­Webseite über Ihre Arbeit. Waren in diesem Jahr Filme im Wettbewerb, von denen Sie sagen würden: Die erfüllen unsere Kriterien nicht?
Wir waren – zugegeben – etwas irritiert über die durchwachsene Qualität des Gesamtwettbewerbs. Und ich rede hier nicht von den Themen, sondern von der filmischen Umsetzung. Da wurde zum Beispiel sehr viel sinnlose Brutalität und toxische Männlichkeit vorgeführt – unhinterfragt und ohne erkennbare Auseinandersetzung damit. Das ist nach unserem Eindruck zu wenig – und übrigens ging das nicht nur uns so, sondern auch anderen Jurys.

Hätten Sie für die Bewertung manchmal lieber ein anderes Vorzeichen gehabt als den „Einklang mit dem Evangelium“?
Ganz ehrlich: nein! Das Vorzeichen, wie Sie es nennen, tangiert nicht den künstlerischen Wert, die handwerkliche Qualität einer Arbeit, die Leistungen der Schauspielerinnen und Schauspieler, die Regie die Montage, den Schnitt, Licht und Musik. Auf all das schauen wir genauso professionell und kritisch wie jede andere Jury auch. Unser spezifisch christlicher Fokus ist nicht enggeführt auf die Suche nach dem besten Jesusfilm oder der gelungenen Bebilderung des Katechismus. Menschenwürde, Grundfragen der Existenz, die Solidarität mit Minderheiten im Licht des Evangeliums zu betrachten, das ist etwas, worauf ich mich sehr gut einlassen kann. Dadurch kommen Perspektiven in den Wettbewerb, denen die internationale Jury – aus nachvollziehbaren Gründen – nicht immer die gebührende Aufmerksamkeit widmet.

Katholische und evangelische Jurorinnen und Juroren arbeiten seit 1992 gemein­sam. Gibt es trotzdem so etwas wie einen konfessionellen Silberblick?
Gar nicht. Ohne vorherige Bekanntschaft oder die Lektüre der Vita meiner Co-Jurorinnen und Juroren hätte ich nicht sagen können, wer katholisch oder evangelisch ist.

Hat die Chemie gestimmt?
Bestens! Ich war als Jüngste das Jury-Küken. Mit dabei waren dann noch zwei wunderbare Französinnen, ein Kanadier, ein Kubaner und Miriam Hollstein aus Deutschland als Vorsitzende. Wie wir mit unseren so unterschiedlichen soziokulturellen Horizonten zueinander gefunden haben, das war für mich sehr faszinierend. Auch im fachlichen Disput haben wir eine professionelle, wertschätzende Form von „consent“ gefunden – nach dem Prinzip „We agree to disagree“.

Wie ging das rein praktisch? Sie haben ja in den wenigen Tagen – wenn ich richtig gezählt habe – fast 40 Filme gesehen.
Das war ein Marathon. Frühmorgens online mussten wir die Vorführungen buchen, die längst nicht alle im Berlinale-Palast stattgefunden haben, sondern in Kinos über die ganze Stadt verstreut. Wenn es in den Pressesichtungen keine Plätze mehr gab, mussten – oder vielleicht sollte ich besser sagen – durften wir dann auch abends zu den Weltpremieren gehen. Dann mussten wir uns natürlich immer wieder zu Jurysitzungen treffen, die in eigenen Räumen stattfanden, weil man tatsächlich nur dort und auch nur innerhalb der eigenen Jury über die Filme des Wettbewerbs sprechen darf. Das Reglement ist da sehr streng.

Zu allem Überfluss „mussten“ Sie auch noch den Ökumenischen Empfang geben und den Glamour am Roten Teppich mitnehmen.
Letzteres weniger. Wenn Sie um Mitternacht aus der letzten Vorführung gehen, wird der Rote Teppich meistens schon wieder gestaubsaugt. Einmal habe ich mir die Freiheit gegönnt, zur Deutschland-Premiere von „Tár“ zu gehen. Cate Blanchett, die Hauptdarstellerin, war da, genau wie viele andere Menschen, die ich sonst nur aus dem Kino kenne. Zwei Reihen neben mir saß Heike Makatsch. Also, das sind schon besondere Momente. Aber noch viel berührender war für mich auf der Berlinale etwas anderes.

Nämlich was?
Die Begegnungen mit den Filmemachern, die nach den Vorführungen von ihren Projekten erzählten; von dem Herzblut, das sie in die teils jahrelange Arbeit gesteckt haben; von den Schwierigkeiten, die sie überwinden mussten. Das ging mir sehr zu Herzen.

Worin sehen Sie den Sinn der Aus­einandersetzung einer kirchlichen Jury mit dem Medium Film?
Das Christentum ist eine Erzählreligion, von Anfang an. Schauen Sie ins Neue Testament: Wenn Jesus über Gott spricht, erzählt er Geschichten. „Mit dem Himmelreich ist es wie mit …“ Dieses narrative Moment gehört auch zum Wesen des Filmemachens. Ich finde, Kirche müsste heute noch sehr viel intensiver darauf schauen, was Filme zu erzählen haben und wie sie es tun.

Aber Sie schauen ja nicht nur, sondern fällen auch ein Urteil.
Richtig. Aber noch einmal: mit einem professionell-cineastischen Anspruch. Für Benotungen frommer Gesinnungen wäre ich nicht zu haben gewesen.

Wenn das alles so wichtig ist, dann muss man sich ja umso mehr wundern, dass der renommierte katholische „Filmdienst“ 2017 auf ein reines Online­Format ge­schrumpft wurde.
Ein großes Politikum, ja. Ich bin als Mitglied der „Katholischen Filmkommission für Deutschland“ Mitherausgeberin von filmdienst.de. Und ich sehe schon das Problem, dass die zentrale Bedeutung medialer Kommunikation nicht allen Entscheidungsträgern in unserer Kirche hinreichend vermittelbar ist. Kirche müsste sich hier mehr öffnen. Wir ackern sehr dafür, aber der Boden ist schwer.

Apropos schwerer Boden: Wie begegnet die Welt des Films einer Jury, die „von Kirchens“ kommt?
Während man als Vertreterin von Kirche inzwischen ganz oft schnell die Tür von außen sieht, war das auf der Berlinale zu meinem Erstaunen nicht so. Das mag mit der langen Tradition der Ökumenischen Jury zu tun habe. Aber vielleicht sind wir Jurorinnen und Juroren auch ein besonderer Schlag von „Kirchenmenschen“, die mit ihrer fachlichen Expertise den Eindruck vermitteln konnten: „Ach, die sind ja gar nicht so …“ Und das ist doch genau der Punkt: Kirche ist in der Öffentlichkeit zurzeit nicht gut angeschrieben, hat wenig Chancen, ein halbwegs annehmbares Bild abzugeben. Aber: Kirche kann auch anders. Kirche kann mehr.