geschrieben von Michaela Pilters
Wer von Gott berührt ist, kann aus dieser Erfahrung sein Leben, seine Beziehungen und die Gesellschaft gestalten, schreibt P. Christof Wolf SJ in den Oktober-Informationen der GKP.
Liest man die Berufungsgeschichten in den Evangelien, so fällt auf, wie kurz sie sind. Keine langen Dialoge oder psychologischen Erklärungen. Jesus spricht die Menschen an, und sie lassen alles hinter sich, um ihm zu folgen. Selbst ihre sozialen Bindungen zählen scheinbar nichts mehr. So verlässt Petrus seine Frau und möglicherweise auch Kinder. Dieses Narrativ wird bis heute gerne gepflegt. Jesus tritt in unser Leben und sogleich verändert es sich radikal. Man verlässt alles Vertraute und folgt ihm nach. Man kann das natürlich tun, aber wer im Beruf oder in der Familie für andere Menschen verantwortlich ist, wird das kaum für umsetzbar halten.
So radikal, wie wir es uns heute vorstellen mögen, war es wohl selbst zu Zeiten Jesu nicht. Sehr wahrscheinlich sind die Jünger ihm in der Trockenzeit von April bis Oktober gefolgt. Wenn aber die Feldfrüchte erntereif waren, mussten alle mithelfen, um zu überleben, und während der Regenzeit ließ es sich schlecht wandern. So verwundert es nicht, dass selbst Jesus einen festen Ort hat. Der Evangelist Matthäus berichtet uns vom Fischerdorf Kafarnaum am Nordufer des Sees Genezareth. Jesu Aussage, „die Füchse haben ihre Höhlen und die Vögel ihre Nester; der Menschensohn aber hat keinen Ort, wo er sein Haupt hinlegen kann“ (Mt 8, 20), muss dem nicht widersprechen. Wer wie Jesus meist unterwegs ist, hat eben zur Zeit der Wanderschaft keine häusliche Bleibe und ist auf die Gastfreundschaft anderer angewiesen. Diese wurde ihm ja auch immer wieder gerne gewährt, von Menschen, deren Herzen sich seiner Gegenwart öffneten.
Sicher waren die Jünger oder auch Frauen wie Maria Magdalena ganz besonders von Jesus und seiner Botschaft vom Reich Gottes berührt. Und zwar nicht nur „rein geistig“. So heißt es, dass alle, die Jesus berührte, gesund wurden (Mt 14, 34-26). Bloßes Hörensagen reicht offenbar nicht. Die persönliche, ja leibhafte Begegnung ist durch nichts zu ersetzen. Das haben wir doch gerade jetzt in dieser Corona-Zeit zu spüren bekommen, wie schmerzlich Berührungen fehlen können, wie innig man sich nach ihnen sehnt. Dabei geht es um gegenseitiges Erleben, wie bei Jesus: nicht nur er berührt andere, sondern er wird auch selber berührt. Etwa bei der Fußwaschung, oder wenn der Lieblingsjünger Johannes seinen Kopf an Jesu Brust lehnt, oder wenn Maria von Bethanien, die Schwester von Martha und Lazarus, zutiefst spürt und ahnt, was Jesus in Jerusalem bevorsteht, und ihm die Füße salbt. Besonders intensiv dann die Szene mit dem ungläubigen Thomas, der nur an den Auferstandenen glauben kann, wenn er ihn berühren darf.
Der Apostel Paulus fordert seine Zuhörer in Athen auf, Gott zu suchen, „ob sie ihn ertasten und finden könnten, denn keinem von uns ist er fern.“ (Apg 17, 27). Das griechische psälaphán in Paulus’ Predigt bedeutet wörtlich: „sinnliches Ertasten und Berühren“. Denn Gott ist wohl unsichtbar, aber uns dennoch so nah, dass wir ihn mit allen Sinnen erfahren können. Jede geistige Erfahrung drückt sich auch immer in einem körperlichen Erleben aus. Unser Geist kann ohne unser Gehirn, unseren Körper nicht existieren. Beziehungen, Liebe und Freundschaft brauchen die körperliche Dimension. Und man muss sich auch berühren lassen können. Das ist durchaus nicht trivial, denn wie wir wissen, können Berührungen auch übergriffig sein.
Auch das Alte Testament kennt die Berührung Gottes. Mose erfährt sie auf dem Heiligen Berg beim Bundesschluss: „Die Herrlichkeit des HERRN nahm Wohnung auf dem Berg Sinai und die Wolke bedeckte den Berg sechs Tage lang. Am siebten Tag rief er mitten aus der Wolke Mose herbei. […] Mose ging mitten in die Wolke hinein und stieg auf den Berg hinauf.“ (Ex 24, 16-18). Eine Wolke kann man auf der Haut spüren, sie umhüllt einen, aber fassen kann man sie nicht. Ähnlich die Erfahrung des Propheten Elia. Gott schickt ihm einen Engel, der ihn berührt, ihn auffordert, zu essen und zu trinken, um sich für die bevorstehende Wanderung zu stärken. Und dann begegnet der HERR Elia außerhalb der Höhle: Gott ist nicht im Feuer, nicht im gewaltigen Sturm und Erdbeben, Gott umfängt Elia im Säuseln des Windes.
Im Buch Ezechiel wird dem Propheten die Buchrolle gegeben, nach der er verkündigen soll. Aber er soll nicht aus ihr vorlesen. Er soll sie essen, sich einverleiben, sie verinnerlichen – auch um den Preis ihrer äußeren Vernichtung. Der Prophet tut wie geheißen und berichtet: „Ich aß sie und sie wurde in meinem Mund süß wie Honig.“ (Ez 3, 3). Es geht also um die radikale Verinnerlichung der Botschaft Gottes. Wer von Gott berührt ist, kann aus dieser Erfahrung sein Leben, seine Beziehungen und die Gesellschaft gestalten, ein Leben in Fülle schon auf Erden erfahren und für andere erfahrbar machen.
Christof Wolf SJ